Schule und Arbeitsplatz – Gegensatz oder Ergänzung?

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Ein besonderes Merkmal des Schweizer Bildungssystems ist die höhere Berufsbildung. Sie verbindet das Lernen in der Schule mit dem Lernen am Arbeitsplatz. Im Jahr 2022 arbeiteten 81 Prozent der Studierenden an Höheren Fachschulen während der Ausbildung (Bundesamt für Statistik, 2024). Der Anteil unterscheidet sich je nach Bildungsfeld. Der Anteil lag bei «Finanz-, Bank- und Versicherungswesen» am höchsten (100Prozent). Aber auch beim Bildungsfeld «Persönliche Dienstleistungen» mit dem niedrigsten Erwerbstätigenanteil arbeiteten mehr als die Hälfte der Studierenden neben dem Unterricht (57 Prozent).

Von Thomas Bolli und Lena Dändliker *

Vorteile von verschiedenen Lernorten

Diese Kombination der beiden Lernorte bringt viele Vorteile. Inhalte aus dem Unterricht können direkt im Arbeitsalltag ausprobiert und vertieft werden. Dadurch bleibt das Gelernte nicht theoretisch, sondern wird zur Handlungskompetenz.

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Die Kombination von Schule und Arbeitsplatz steigert die Motivation der Studierenden. Am Arbeitsplatz wird sofort klar, wofür das Wissen aus der Schule gebraucht wird. Diese praktische Anwendung macht den Unterricht greifbar und sinnvoll – und das motiviert.

Was denken Schulen und Arbeitgeber?

Um diese theoretischen Überlegungen mit empirischen Daten zu untermauern, haben wir Vertreter und Vertreterinnen von Schulen und Arbeitgeber von Studierenden der Höheren Fachprüfung in der Bauführung befragt. Die Befragungen, welche durch den Schweizerischen Baumeisterverband finanziert wurden, fanden im Herbst 2023 und Sommer 2024 statt (Renold et al., 2025).

In einem ersten Schritt haben wir gefragt, an welchem Lernort spezifische Kompetenzen – unterteilt in Fachkompetenzen und Soft Skills – idealerweise erworben werden. Abbildung 1 zeigt die mittlere Bewertung entlang einer Skala von 0 (idealer Lernort: Schule), über 50 (ausgewogen/unklar) bis 100 (idealer Lernort: Arbeitsplatz).

Bei den Fachkompetenzen – etwa Kenntnisse zu Normen und Vorschriften – sind sich die Befragten einig: Diese können durch Schulen besser vermittelt werden. Hierzu zählen auch rechtliche Grundlagen, technisches Know-how sowie planungsbezogene Kompetenzen, die ein fundiertes, systematisches Verständnis erfordern.

Anders sieht es bei den Soft Skills aus. Hierzu zählen zum Beispiel Belastbarkeit, Teamfähigkeit, Selbstorganisation oder Motivation. Die Mehrheit der Befragten sieht den Arbeitsplatz als den geeigneteren Lernort für diese überfachlichen Kompetenzen. Dies dürfte unter anderem damit zusammenhängen, dass Soft Skills stark kontext- und erfahrungsabhängig sind und sich besser in realen Arbeitsprozessen entwickeln lassen als im klassischen Unterricht.

Tatsächlicher und idealer Kompetenzerwerb im Vergleich

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Diese Ergebnisse untermauern die Grundannahme einer sich ergänzenden Beziehung zwischen Schule und Arbeitsplatz. Im nächsten Schritt haben wir untersucht, ob diese komplementäre Beziehung in der höheren Berufsbildung tatsächlich auch gelebt wird. Abbildung 2 zeigt, wie die tatsächliche und idealerweise angestrebte Verteilung des Kompetenzerwerbs zwischen den Lernorten aussehen sollte. Die Abbildung zeigt die Einschätzungen der befragten Schulen und Arbeitgeber auf einer Skala von 0Prozent («nur bei Schulen») bis 100Prozent («nur am Arbeitsplatz»).

Die Ergebnisse zeigen eine relativ ausgewogene Wahrnehmung: Die Befragten schreiben den tatsächlichen Erwerb von Kompetenzen leicht dem Arbeitsplatz zu und auch ihre Idealvorstellungen bewegen sich in einem ähnlichen Bereich. Schulen schätzen den tatsächlichen Anteil am Arbeitsplatz auf 55Prozent und halten diesen Wert auch für ideal (56Prozent). Arbeitgeber sehen den Anteil etwas höher (63Prozent), wünschen sich aber mit 55Prozent ebenfalls eine leicht stärkere Gewichtung zugunsten des Arbeitsplatzes.

Diese Ergebnisse bestätigen die Grundidee einer komplementären Beziehung zwischen Schule und Arbeitsplatz. Keiner der beiden Lernorte wird als alleinig geeignet betrachtet, vielmehr wird ihre Verbindung als zentrale Stärke des Systems gesehen.

Schlussfolgerungen und Implikationen

Die Ergebnisse verdeutlichen, dass Schule und Arbeitsplatz keine Gegensätze darstellen, sondern einander sinnvoll ergänzen. Beide Lernorte bringen spezifische Stärken mit, die für eine umfassende Kompetenzentwicklung notwendig sind. Während Schulen für die strukturierte Vermittlung von Fachwissen verantwortlich sind, stellt der Arbeitsplatz eine Lernumgebung dar, in der das Wissen praktisch angewandt, gefestigt und weiterentwickelt wird.

Gerade in einer Zeit zunehmender Fachkräftemängel kann die Verbindung von Erwerbstätigkeit und Ausbildung dazu beitragen, Humankapital effizient zu entwickeln. Erwerbstätige können ihre Kompetenzen erweitern, ohne sich aus dem Arbeitsmarkt zurückzuziehen. Für Unternehmen bedeutet dies, dass sie von einer qualifizierten und gleichzeitig praxiserfahrenen Belegschaft profitieren. Für die Studierenden ergibt sich ein Bildungspfad, der zugleich praxisnah, karrierefördernd und anschlussfähig ist.

Die enge Verzahnung von Arbeitsplatz und Schule fördert zudem die Flexibilität, da Ausbildungen rascher auf Veränderungen am Arbeitsmarkt reagieren können – und damit auch die Grundlage für lebenslanges Lernen stärken.

Das schweizerische Bildungssystem bietet mit seiner hohen Durchlässigkeit und der institutionellen Verzahnung von Bildungs- und Arbeitswelt ein internationales Vorbild. Die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung unterstreichen, dass die Balance zwischen Theorie und Praxis nicht nur möglich, sondern essenziell für den nachhaltigen Kompetenzerwerb ist.  h

 

* Thomas Bolli, Center for Labor, Digital and Regional Economics, ZHAW und Lena Dändliker, Professur für Bildungssysteme, ETH Zürich

 

Literatur
Bundesamt für Statistik (2024). Erwerbstätigkeit während der Ausbildung.
Renold U., Bolli T., & Dändliker L. (2025). Einschätzungen von Organisationen der Arbeitswelt und Bildungsanbietern zur Bauführungs-HFP im Herbst 2024: Dritter Bericht zur Transformation der höheren Berufsbildung in der Bauführung. CES Studien, 55.